Berliner Morgenpost über »Königin des Mülls«

Jugendtheaterprojekt: „Hey, man kann immer was machen!“

von Sören Kittel

Judith Georgi schimpft laut vor sich hin: „Leck mich, Schickse“. Dann bückt sich die 23-jährige Schauspielerin nach einem Zettel, auf dem das Wort „Poesie“ steht. Bevor sie aber etwas vorlesen kann, unterbricht sie die Regisseurin Lore Seichter-Muráth. „Du bist mir noch zu verkopft“, sagt sie zu der Schauspielerin.

„Außerdem sprichst Du noch nicht laut genug.“ Judith solle den Text noch einmal sprechen. „Bitte so, dass dich auch die dort hinten hören!“ Sie zeigt auf die drei Hauptschüler Sebastian, Ufuk und Meikel. Judith Georgi ruft mit aller Kraft über den ganzen Bauernhof: „Leben! Leben! Leben! Jetzt! Schon vergessen? Oder lieber gleich in’n Knast!“ Die drei Jungen, die vor dem Pferdestall sitzen, hören sie und johlen. Judith ignoriert ihre Rufe und brüllt mit aller Kraft: „Hey, man kann immer was machen!“

Dieser Satz ist es letztlich, der alle antreibt, die sich in dieser Woche im brandenburgischen Wollschow versammelt haben. Wegen dieses „Man kann immer was machen“ gibt es in Berlin Projekte wie „Rhythm is it“ von Simon Rattle oder die Theater-Kooperation von der Rütli-Schule und dem Maxim-Gorki-Theater. Auch die Theatermacherin Seichter-Muráth glaubt an die Wirkung des Spiels auf der Bühne und lud 15 Schüler aus einer 8. Klasse der Greenwich-Hauptschule im Märkischen Viertel auf ihren Bauernhof in der Uckermark. Umgeben von Wiesen, Wäldern und Windkraftanlagen hat die Gruppe aus Hauptschülern, zwei Lehrern und den drei Schauspielern Judith Georgi, Elisabeth Lehmann und Michael Duckstein-Neumann ihr Lager aufgeschlagen, um das Stück „Königin des Mülls“ zu proben. Heute um 11 Uhr öffnet sich der Vorhang für die Premiere in der Schule in der Finsterwalder Straße 52. Drei weitere Vorstellungstermine stehen schon fest.

Gewalt in der Sprache erkennen

Vor dem ersten Auftritt ging es darum, die Jugendlichen zu motivieren. Das wurde eine Woche vor Abreise deutlich. Damals vergrub der Schüler Deniz den Kopf in seinen Armen. „Hast Du den Text mitgebracht, Deniz?“, fragte ihn Lore Seichter-Muráth. Jemand rief etwas über „Michael Jackson“ und „Augenkrebs“ in den Raum. Lore Seichter-Muráth kurz: „Ruhe!“ Dann etwas leiser wieder zu Deniz: „Du wolltest doch einen Rap für das Stück schreiben?“ Der 15-Jährige schaute unter seinen Armen hervor. „Hab ich vergessen“, sagte er leise. Dann lachte Jessica kurz auf, weil Justin ein Papierstück auf Angelique geworfen hat. „Wie bitte?“, fragt die resolute Theatermacherin. Deniz: „Hab ich vergessen, und vielleicht will ich ihn lieber nicht sprechen. Ich glaube, ich kann das nicht.“ Lore Seichter-Muráth ruft laut: „Klar kannst du das – Ihr alle! Ihr könnt das und noch viel mehr!“

Lore Seichter-Muráth hat schon mehrere Projekte dieser Art organisiert, in England, Österreich oder Deutschland – und doch ist die „Königin des Mülls“ ein Projekt mit vielen Herausforderungen. Noch nie hat sie eine Klasse auf ihren privaten Hof in der Uckermark eingeladen. Noch nie hat sie ein Stück zusammen mit Hauptschülern geschrieben.

Und: Wahrscheinlich hat sie noch nie so viele Schimpfwörter in so vielen Sprachen auf einmal gehört. „Mir geht es darum, dass sich die Jugendlichen auf einer anderen Ebene mit dem Thema Gewalt beschäftigen“, sagt Seichter-Muráth. Damit meint sie nicht nur körperliche Gewalt sondern auch die Gewalt in der Sprache. „Wörter können sehr böse Dinge transportieren – ich will, dass die Schüler das beim Theaterspielen merken.“ Doch dazu müssen diese Wörter erst einmal gefunden werden. Deswegen haben die Schüler selbst Rap-Texte geschrieben: Deniz, Meikel, Önder und die anderen. Entsprechend deutlich ist die Sprache, auch auf der Bühne: „In Berlin bin ich gerade angekommen / dachte noch, ich sei willkommen / nichts dergleichen, armes Leben / Rotzigkeit kannste hier erleben.“ Das sind noch harmlose Textstellen, doch größer könnte der Kontrast nicht sein zu dem Text, der in ebendiesem Stück ebenfalls mehrmals vorgetragen wird. Es ist das Gedicht „Poesie“ von Hans Christian Andersen: Es gibt ein herrlich Land / Genannt die Poesie / Es reicht bis in den Himmel hoch / Bis in der Rosen Knospen…

Lore Seichter-Muráth hat beide Texte mehrmals in der Klasse vorlesen lassen. Rap gegen Poesie. Harte Worte gegen luftige Lyrik. Immer wieder. Dann hat sie die Texte miteinander verwoben. Anfangs sprachen die Schüler aus Trotz von Pe-osie oder Posy. „Die Schüler haben sich nicht auf den Text eingelassen“, erzählt sie. „Aber je länger wir daran arbeiteten, umso mehr wirkten die Wörter auf sie.“ Bei der letzten Probe konnten viele das Gedicht bereits auswendig. Sechs Treffen gab es, bevor sie in die Uckermark hinausgefahren sind. Sechs mal 90 Minuten standen sie im Kreis und probierten Konzentrations-Übungen. Ein Wort, das die Betreuer des Stücks oft nennen, ist „Aufmerksamkeitsspanne“. Es bezeichnet die Zeit, in der sich die Hauptschüler auf eine Aufgabe konzentrieren können, ohne sich abzulenken. Bei einigen ist sie 30 Minuten und länger. Bei vielen liegt sie unter zehn Minuten. Im Unterricht fangen sie dann an, einander mit Dingen zu bewerfen, etwas zu rufen, die Lehrer zu provozieren. Doch während der Tage in Wollschow fällt eines auf: Obwohl normalerweise gerade das monotone Wiederholen von immer gleichen Szenen besonders zum Stören animiert – es gibt diese Momente, in denen sie alle gebannt auf die Bühne schauen und einem von ihnen bei der Arbeit zusehen.

Auftritt Angelique. In hellblauen Jeans und einem weißen Pullover mit schwarzen Herzen steht die 14-Jährige am Rand der Bühne und läuft langsam auf deren Mitte zu. Dabei erzählt sie davon, wie sie sich eine Welt nach eigenem Vergnügen einrichten würde: „Es gäbe keine Kinderschänder, keine Amokläufer, keine bösen Menschen“, sagt sie ruhig und schaut auf den Boden. Sie spricht dabei jedes der Worte sehr deutlich aus, wie um deren Inhalt besonders zu betonen. Und dann, am Ende ihrer kurzen Rede: „Ich hätte einen Mann, der mich wirklich liebt. Der mich so nimmt, wie ich bin.“ Pause. Sie hebt den Kopf. „Und ich wäre ein Star!“ Bei Angelique klingt das nicht pathetisch oder eitel. Sie sagt es so, wie es sich vielleicht insgeheim auch ihre Klassenkameraden wünschen: ein Star sein, als Topmodel, als Rapper oder vielleicht als Schauspieler.

Geschrieben hat Angelique den Text selbst. Es war eine der Aufgaben, die Lore Seichter-Muráth ihnen während der Vorbereitungszeit stellte. „Schreibt auf, wie Ihr Euch ein Leben auf einem anderen Stern ausmalt.“ Die Antworten lassen viel vom Alltag der Jugendlichen erkennen. Sie erzählen davon, dass sie gern Präsident wären, dass sie ein Multi-Funktions-Handy hätten, einen eigenen Laden oder keine Schule mehr. Es sind letztlich die Träume vieler Achtklässler. Fragt man einzelne nach ihrer Zukunft, erzählen sie auch realistische Wünsche. „Abitur“, sagt eines der Mädchen und weiß, dass sie dafür zuerst auf die Realschule muss. „Doch das muss ich dann eben.“

Blindschleiche im Schlafzimmer

Auch das ist ein Vorteil des Probenlagers: dass hier die Themen Lebensplanung und Notendurchschnitt einmal keine Rolle spielen. Auch hier wieder schwingt in der Luft mit: Man kann immer was machen. „Als ich den Schülern von Wollschow erzählte“, erinnert sich die Lehrerin Katrin Nuck lachend, „waren viele geschockt, dass es hier keinen Fernseher gibt und hatten Angst vor Spinnen.“ Immer wieder hätten sie gefragt: „Was sollen wir denn da machen?“ Schnell fanden sie Beschäftigungen jenseits der Schminkexzesse oder dem heimlichen Rauchen. Es gab genug Themen, um bis spät in die Nacht zu reden: die Blindschleiche im Zimmer, das panische Wegrennen vor gefährlichen Wildschweinen, abgeschraubte Türklinken, ein Junge, der jetzt eines der Mädchen „seine Freundin“ nennt – und schließlich beim Essen der unvergessliche Spruch einer Schülerin: „Ich brauche eben meine Kohlenhydrate!“ Gemeinsames Lachen und Erlebnisse in der Natur sind für Lore Seichter-Muráth ebenso wichtig für das Stück, wie die Proben. „Ich will, dass die Schüler hier als Gemeinschaft etwas erleben, das sie einander näher bringt.“ So hat jeder eine Aufgabe im Stück. Diejenigen, die nicht schauspielern wollen, beteiligen sich beim Sprayen der Kulisse, die live während der Aufführung entsteht. „Selbst eines der Mädchen, das sich zunächst total verweigerte, hat sich am Ende doch beteiligt.“ Vielleicht hätten sich ein paar Schüler sogar ein eigenes Stück gewünscht – ganz ohne die drei Profi-Schauspieler. Wäre da nicht die Sache mit der Aufmerksamkeitsspanne…

In Wollschow jedenfalls waren die Großstädter nicht unbemerkt geblieben. Deutsche mit russischem, polnischem, bosnischem, kurdischem oder iranischem Hintergrund kommen eben selten in diese Gegend – zumindest gleichzeitig. Auch der blecherne Klang der Rapmusik oder der Titelmelodie aus „Star Wars“ aus Handys hört man sonst selten auf den Straßen des kleinen Ortes.

An einem Abend kamen dann die Anwohner Wollschows vorbei und schauten sich die „Königin des Mülls“ an. Sie hörten Judiths Schimpftirade („Leck mich, Schickse!“), waren berührt von Angeliques Monolog und freuten sich über die Rap-Einlagen von Deniz, Ufuk und Cihan: „In Berlin biste einer von Millionen / In Brandenburg kannste bald alleine wohnen“. Im Hintergrund malten Perry, Justin und Önder währenddessen ein Graffitibild mit Schimpfwörtern wie „Hure“ und „Opfer“. Mit dabei das türkische Wort „Yarak“. Wer wissen will, was das bedeutet, sollte einen der Jungen fragen. Sie lachen dann etwas schüchtern, wie alle in dem Alter. Aber sie sagen es.

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